15 MINIATUREN AUS DEN KULTURWISSENSCHAFTEN GEISTES-, SOZIAL- UND WISSEN SCHAFFT VERTRAUEN Herausgegeben von Hans-Jochen Schiewer und Georg Krausch, GERMAN U15 e.V. E I N M AG A Z I N D E R U 1 5- U N I V E R SI TÄT E N
WER WIR SIND German U15 ist ein im Jahr 2012 gegründeter Verbund von 15 traditionsreichen, medizinführenden und forschungsstarken Universitäten mit umfassendem Fächer- spektrum. Forschungs starke Universitäten bilden das Rückgrat des deutschen Wissenschaftssystems: Für die Bildung junger Menschen und die Qualifikation junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sie von herausragender Bedeutung. Ihr breites Fächerspektrum ermöglicht in hohem Maße interdisziplinäre Forschung. Mit der Gesellschaft und der Wirtschaft stehen sie in engem Aus- tausch. International sind sie sehr sichtbar und attraktiv für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt. Vor diesem Hintergrund bildet German U15 die strategische Interessenvertretung forschungsstarker deutscher Universitäten. STUDIERENDE 1 ABSCHLÜSSE PROMOTIONEN 2 29.218 AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN DAVON 28.971 AN UNIVERSITÄTEN (99 %) DAVON 11.176 AN U15- UNIVERSITÄTEN (39 %) MASTER-ABSCHLÜSSE 3 113.630 AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN DAVON 77.472 AN UNIVERSITÄTEN (68 %) DAVON 18.691 AN U15- UNIVERSITÄTEN (24 %) 2.803.916 AN 399 DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN DAVON 1.745.088 AN 121 UNI- VERSITÄTEN DAVON 543.988 AN U15-UNIVERSITÄTEN MITGLIEDSUNIVERSITÄTEN STANDORTE HAMBURG BERLIN MÜNSTER GÖTTINGEN LEIPZIG KÖLN BONN FRANKFURT WÜRZBURG MAINZ HEIDELBERG TÜBINGEN FREIBURG MÜNCHEN INTERNATIONALES INTERNATIONALE STUDIERENDE IN DEUTSCHLAND 4 357.835 AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN DAVON 236.935 AN UNIVERSITÄTEN (66 %) DAVON 74.288 AN U15-UNIVERSITÄTEN (31 %) INTERNATIONALE STUDIERENDE IN PROMOTIONSSTUDIENGÄNGEN IN DEUTSCHLAND 5 25.188 AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN DAVON 25.067 AN UNIVERSITÄTEN (99 %) DAVON 10.847 AN U15-UNIVERSITÄTEN (43 %) . n e l u h c s h c o H n a n e g n u f ü r P , 5 1 0 2 , 2 . 4 e h i e R , 1 1 e i r e s h c a F , t m a s e d n u B s e h c s i t s i t a t S 2 . 5 1 0 2 n e l h a Z n i n e l u h c s h c o H K R H ; 7 1 / 6 1 0 2 r e t s e m e s r e t n W i , t h c i r e b r o V , r u t l u K d n u g n u d l i B , 1 . 4 e h i e R , 1 1 e i r e s h c a F , t m a s e d n u B s e h c s i t s i t a t S 1 . 7 1 / 6 1 0 2 r e t s e m e s r e t n W i , t h c i r e b r o V , r u t l u K d n u g n u d l i B , 1 . 4 e h i e R , 1 1 e i r e s h c a F , t m a s e d n u B s e h c s i t s i t a t S 4 . n e l u h c s h c o H n a n e g n u f ü r P , 5 1 0 2 , 2 . 4 e h i e R , 1 1 e i r e s h c a F , t m a s e d n u B s e h c s i t s i t a t S 3 . 5 1 0 2 e d n e r e i d u t S - r e d n ä l s u a s g n u d l i B 2 . 8 . 1 : e l l e b a T , n e ff o t l e w ft a h c s n e s s i W 5
GERMAN U15 INHALT 5 5 6 6 7 8 9 9 10 11 11 12 12 13 14 ORIENTALISCHE METROPOLEN ALS VORBILD DAG NIKOLAUS HASSE KEIN KAMPF UM DEUTUNGSHOHEITEN MITA BANERJEE ARABISCH IN DEN LEHRPLAN BEATRICE GRÜNDLER DEBATTIEREN WIE DIE BRITEN JALE TOSUN DIE UNIVERSALITÄT DER GERECHTIGKEIT RAINER FORST RELIGIONSFREIHEIT IST NICHT GLEICH RELIGIONSFREIHEIT MATTHIAS KOENIG AUF EIN WORT MIT DEM FREMDEN ANNE STORCH BILDUNGSAUFTRAG: KREATIVE MUSSE BERNHARD PÖRKSEN VON DER KONTINGENZ IN DER POLITIK BARBARA STOLLBERG-RILINGER GERMAN ANGST? GIBT ES NICHT! ULRICH HERBERT IDEENGESCHICHTE AM VORABEND DER REVOLUTION GREGORY CRANE BILDER DER NATUR FRANK FEHRENBACH TEXTKRITIK STATT FAKE-NEWS OLIVER PRIMAVESI VOM ATHEISMUS IM ISLAM JUDITH PFEIFFER DIE UNGLEICHHEITSTOLERANZ DER MITTELSCHICHT STEFFEN MAU 3 EDITORIAL DEBATTEN STATT ANGSTERFÜLLTER REAKTIONEN Das Klima in den westlichen Wissensgesellschaften hat sich bedrohlich verändert: Das Vertrauen, dass mehr Wis­ sen ein Garant für die Zukunft des demokratischen Staates sei, hat sich vielerorts verflüchtigt. Migration und die Herausforderungen der Integration, das Erstarken von Na­ tionalismen und die Krise supranationaler Strukturen, reli giöser Extremismus und Terrorismus, Cyberattacken, Finanzkrisen und Klimawandel stellen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft auf die Probe. Dabei kommt diesem Vertrau­ en gerade im Wahljahr 2017 eine besondere Bedeutung zu. Vertrauen in die Zukunft entsteht aus einer distan­ zierteren Betrachtung beunruhigender Ereignisse und Entwicklungen. Die Geistes­, Sozial­ und Kulturwissen­ schaften leisten hierzu wesentliche Beiträge. Sie ordnen Aktuelles in größere Zusammenhänge ein und ermög­ lichen auf diese Weise sachliche, konstruktive und zu­ kunftsgerichtete Debatten statt angsterfüllter Reaktionen. In diesem Sinne soll das Magazin „Wissen schafft Vertrau­ en“ Orientierung geben und Mut machen für die Zukunft. 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geistes­, Sozial­ und Kulturwissenschaften unserer 15 Uni­ versitäten eröffnen aus der Sicht ihrer Disziplinen ver­ schiedene Perspektiven, die neugierig machen. Die U15­Universitäten gehören zu den öffentlich sicht­ barsten Institutionen des deutschen Wissenschaftssys­ tems und haben sich seit langer Zeit als diejenigen Orte bewährt, an denen Zukunft gestaltet wird. Als solche ste­ hen sie gerade im Wahljahr 2017 in der Verantwortung, das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesell­ schaft zu stärken. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende und gewinnbringende Lektüre. UNIV.-PROF. DR. DR. H.C. HANS-JOCHEN SCHIEWER Vorstandsvorsitzender German U15 UNIV.-PROF. DR. GEORG KRAUSCH Stellvertretender Vorsitzender German U15
4 GERMAN U15 WISSEN SCHAFFT VERTRAUEN 15 Stimmen aus den Geistes­, Sozial­ und Kulturwissen­ schaften Interviews und Texte: Kristina von Klot MITA BANERJEE Amerikanistische Forschung, Narrativ­ forschung an der Schnitt­ stelle zwischen Geistes­ und Natur wissenschaften Obama Institute for Transnational American Studies
GERMAN U15 5 DAG NIKOLAUS HASSE, Institut für Philosophie, Universität Würzburg ORIENTALISCHE METROPOLEN ALS VORBILD Der kulturelle Austausch zwischen Orient und Okzident hat eine lange Tradition. Die- se historisch gewachsenen Beziehungen zwischen der christlich-lateinischen, ara- bischen und jüdischen Philosophie, Theo- logie und Naturwissenschaft beschäftigen mich als Philologe und Philosoph. Seit Alex ander der Große den nahöst- lichen Raum bis zum heutigen Usbekistan mit dem Mittelmeerraum verband, wan- derte das Wissen von Portugal bis Samar- kand – und zurück. Es entstand ein internationaler Wissensraum, der auch krie gerische Auseinandersetzungen über- dauerte: Auch zu Zeiten der Kreuzzüge übersetzten Wissenschaftler Texte von Kollegen, die anderen Religionen ange- hörten. Man lebte im Bewusstsein, dass alle drei monotheistischen Glaubensrich- tungen aus demselben nahöstlichen Ent- stehungsraum kommen. Im Osmanischen Reich und im andalusischen Spanien wohnten Juden, Christen und Muslime in Großstädten trotz unterschiedlicher Religi- onen in verschiedenen Vierteln lange Zeit friedlich nebeneinander. Ob Alexandria, Istanbul oder Cordoba: Unabhängig von Sprache und Glauben begegnete man ein- ander mit Anstand und Respekt und ak- zeptierte die Regeln der Stadt. Einerseits weckt dieses Szenario Hoff- nung; andererseits macht es skeptisch im Hinblick auf multikulturelle Utopien: Viel- leicht ist es zu viel verlangt, wenn ein Christ vom muslimischen Nachbarn erwar- tet, dass dieser seine Religion versteht. Vielleicht dürfen wir einander auch fremd bleiben. Erst ab 1800, als sich mit dem Erfolg Napoleons die Idee eines modernen Staa- tes in Europa verbreitete, begann der Wes- ten damit, auf den politisch rückständigen Orient herabzublicken. Letztlich waren es die Ideen des Nationalismus, die der jahr- hundertelang währenden friedlichen Ko- existenz in den mediterranen Metropolen ein Ende machten. Die Frage bleibt: War- um sollten wir an ein solches Zusammen- leben unter der Bedingung von Toleranz nicht anknüpfen können? DAG NIKOLAUS HASSE Philosophie­ und Wissen­ schaftsgeschichte der griechisch­arabisch­ lateinischen Tradition Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis MITA BANERJEE, Department of English and Linguistics, Universität Mainz KEIN KAMPF UM DEUTUNGSHOHEITEN Ohne ein interdisziplinäres Vorgehen käme ich bei der Erforschung dessen, was Ge- sellschaften wie die USA als das Eigene und das Fremde definieren, nicht weit. Die Verknüpfung soziologischer und literatur- wissenschaftlicher Methoden ist unab- dingbar, zum Beispiel, um zu rekonstru- ieren, wie der Begriff des „Schwarzen“ etabliert wurde; und ob der des „Indige- nen“ erst aufkam, als man Menschen- und indigene Rechte zu thematisieren begann. Dabei ziehen wir auch Romane oder Auto- biografien zu Rate, die juristisch-politische Diskurse mit beeinflussen. Unsere Forschungsgegenstände sind nicht per se gegeben, sondern das Ergeb- nis gesellschaftlicher Diskurse, ein sozia- les Konstrukt. Vielfach analysieren wir so- ziale Aushandlungsprozesse, etwa in Bezug auf ökologische Gerechtigkeit – wenn der Bau der Dakota Access Pipeline verhandelt wird – oder in Hinblick auf den Umgang mit Fremden. Welche Kriterien wurden dabei angelegt – die Sprache, Re- ligion oder die Hautfarbe? Es geht darum, die jeweilige Eigenlogik von Dokumenten und Protokollen herauszupräparieren, um kulturelle Mechanismen zu verstehen. Was die Wahl der Methoden betrifft, eröffnen sich immer mehr Forschungsbe- reiche, in denen es notwendig erscheint, dass Geistes- und Naturwissenschaften eng zusammenarbeiten. Aktuell beraten Kollegen aus der Medizin und ich gemein- sam ein Projekt, das sich um Traumata von Flüchtlingen dreht: Sie identifizieren Kennzeichen für Trauma-Motive, ich analy- siere Blogs syrischer Migranten, die über ihre Fluchterfahrungen schreiben. Dank dieser Kooperation entstand ein maßge- schneidertes Instrument, das uns profun- de Einblicke in das Schicksal von Men- schen erlaubt, die sich in Deutschland neu verorten müssen. Voraussetzung dafür ist, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen – und keinen Kampf um Deutungshoheiten. Damit knüpfen wir an den produktiven Austausch zwischen den Disziplinen an, wie er durch deren zunehmende Ausdiffe- renzierung in der Vergangenheit bisweilen in Vergessenheit geraten ist.
6 GERMAN U15 BEATRICE GRÜNDLER, Seminar für Semitistik und Arabistik, Freie Universität Berlin ARABISCH IN DEN LEHRPLAN Mit klassischer arabischer Literatur be- fassen sich hierzulande nur wenige Kolle- gen. Nach 27 Jahren in den USA war ich trotz Professur an der Yale University da- her hocherfreut über die Chance, 2014 an die Freie Universität in Berlin zu wech- seln. Denn die großzügige Unterstützung für Verbundforschung, die es nur an deut- schen Hochschulen gibt, ermöglicht mir das Teamwork mit anderen Kulturwissen- schaftlern. Ich fände es wunderbar, wenn Grund- kenntnisse im Arabischen an den Schulen gelehrt würden – so, wie es in Frankreich der Fall ist. Das würde das Bewusstsein dafür schärfen, wie eng unsere Kultur, etwa die europäische Literatur, mit der arabischen verwoben ist. Es gibt kaum ein wissenschaftliches griechisches Werk aus dem Altertum, das nicht ins Ara- bische übersetzt wurde. Die Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres teilen mit uns die klas- sische Kultur und Philosophie, aber auch das Wissen um die Ursprünge der Natur- wissenschaften und die Weisheitslitera- tur. Dieses gemeinsame Erbe spiegelt sich auch in der Sprache wider, obwohl kaum mehr jemand weiß, dass Worte wie „Ziffer" und „Zenit" arabischen Ursprungs sind. Unter allen Textgattungen steht mir die Poesie der Vormoderne besonders nahe: die arabische Dichtung, die ihre ganze Geschichte in sich trägt, sich aber nicht so einfach erschließt. Ein Gedicht ist wie eine Rose, die man nach und nach entblättert. Mancher noch so kurze Vers scheint die jahrhunderte- lange Entwicklung aller vorherigen Verse zu diesem Thema zu vereinen. Nur wer um ihre Ursprünge weiß, kann eine solche Poesie in der Tiefe verstehen. Es ist ein Genuss des Wissenden, weil man etwas dafür tun muss, aber die Freude daran ist umso größer. Mit einem meiner arabischen Studen- ten, der selber Poet ist, arbeite ich an ei- ner neuen, zeitgemäßen Übersetzung der sprichwörtlich gewordenen Verse von al-Mutanabbi (915 – 965), dem größten Dichter arabischer Zunge. Seine Kunst der klaren suggestiven Sprachbilder be- sitzt zeitlose Gültigkeit. BEATRICE GRÜNDLER Arabische Sprach­ und Schriftgeschichte Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis JALE TOSUN, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg DEBATTIEREN WIE DIE BRITEN In Fragen der Energie­, Umwelt­ und Klima­ politik zeichnet uns Deutsche ein bemer­ kenswertes Spannungsverhältnis aus: Ei­ nerseits sind wir eine technikbegeisterte Gesellschaft, deren Wirtschaftskraft auf Erfindergeist und großem Know-how be- ruht. Andererseits agieren wir im interna- tionalen Vergleich eher risikoavers: Wir scheuen Innovationen, wenn diese mit Ri- siken einhergehen, die im Moment noch nicht absehbar sind. Das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet seit einiger Zeit, die Plagiate der letzten Jahre sind nur ein Anlass und Ausdruck dafür. Ein Beispiel ist die Gen- technik, die sozial nicht umsetzbar ist, weil man ihr mehrheitlich misstraut. Die öffentliche Diskussion um dieses Thema wird dominiert von einem diffusen Unbe- hagen, an dem sachliche Argumente ab- prallen; ein Phänomen, das sich auch in der Debattenkultur zeigt: Auf mich wirkt es stets befremdlich, wenn es in Talkshows vor allem um Meinungen und Polarisierun- gen geht – und nicht um die Sache. Als Wissenschaftlerin fühle ich mich dem Ideal einer zukunftsoffenen, wert- urteilsfreien Forschung verpflichtet, für die Fragen nach Methode und Datenlage ele- mentar sind. Aber auch in Bundestagsde- batten, die häufig Gegenstand meiner Ana- lysen sind, begründet selten jemand einen politischen Richtungswechsel mit neuen wissenschaft lichen Erkenntnissen. Viele europäische Nachbarstaaten agieren da pragmatischer und forschungsorientierter. So war Finnland beim Thema Biotreibstoffe zunächst gegen die Einführung und wollte die europä ische Richtlinie nicht umsetzen. Kaum hatte man aber herausgefunden, dass sich mit organischen Abfällen aus der Forstwirtschaft auf nach haltige Weise Treib- stoff herstellen lässt, war Finnland plötzlich dafür. Auch die öffent liche Meinung ließ sich wenden. Eine solch offene Kommunikationskul- tur, die ein Umdenken möglich macht, wün- sche ich mir auch für Deutschland.
GERMAN U15 7 RAINER FORST Politische Theorie und praktische Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis, Co­Sprecher Exzellenzcluster Normative Orders RAINER FORST, Politikwissenschaft und Philosophie, Goethe­Universität Frankfurt DIE UNIVERSALITÄT DER GERECHTIGKEIT Ein gerechtes Zusammenleben von Men­ schen unterschiedlicher Religionen und Kulturen kann nur gelingen, wenn die dabei vorausgesetzten Grundsätze der Gerechtig­ keit allgemein teilbar sind und gegenüber partikularen Wertüberzeugungen – von Mehr­ oder Minderheiten – Priorität genie­ ßen. In meinen Studien über Toleranz will ich zeigen, dass dies die richtige Lehre aus den Religionskonflikten ist, die unsere Ge­ schichte bis in die Gegenwart prägen. Wenn die Menschenwürde zu Recht als unantastbar gilt, so ist sie mit Kant als relationaler Begriff zu verstehen: Sie ver­ langt eine Achtungs­ und Rechtfertigungs­ beziehung zwischen mir und anderen, die als eigenständige, gleichberechtigte We­ sen anerkannt werden, ohne dass dafür eine religiöse Begründung erforderlich ist. Denn eine Republik braucht eine gemein­ same Sprache von Gerechtigkeit, die für alle gilt; nicht aber eine gemeinsame Spra­ che, was religiöse Überzeugungen betrifft. Die Rede von einer „christlich geprägten Leitkultur“ verschleift diesen Unterschied allzu häufig. Die Annahme, Grund prinzi- pien einer freiheitlichen Demokratie stün- den einer bestimmten Religion per se nä- her als einer anderen, ist weder historisch noch normativ begründbar. Ein weiterer Schwerpunkt meiner For- schungsarbeit, der ich im Rahmen des in- terdisziplinären Exzellenzclusters Normati- ve Ordnungen nachgehe, besteht darin, nach Gerechtigkeitsprinzipien zu fragen, die auf einer transnationalen Ebene gelten. Dabei beginne ich weder mit kosmopoliti- schen Gedankenexperimenten noch mit nationalen Souveränitäts-Idealen, sondern mit der Analyse realer Macht beziehungen. Der grundlegende norma tive Anspruch eines „Rechts auf Recht fertigung“ besagt, dass Personen und Kollektive, die normativ bindenden Regeln und Strukturen – auch solchen ökono mischer Natur – unterworfen sind, das Recht haben, diese demokratisch mitzubestimmen. Also bedarf es einer öf- fentlich-rechtlichen Regelung transnationa- ler sozio ökonomischer Verhältnisse – nicht zuletzt von Tätigkeiten global agierender multinationaler Unternehmen. JALE TOSUN Vergleichende Unter­ suchung von Regulierung und Verteilungskonflikten in der Europäischen Union Leitung EU­Verbund­ forschungsprojekt zu Jugendarbeits losigkeit in Europa
8 GERMAN U15 MATTHIAS KOENIG, Institut für Soziologie, Universität Göttingen RELIGIONSFREIHEIT IST NICHT GLEICH RELIGIONSFREIHEIT Wie Staaten mit religiöser Vielfalt umge­ hen, variiert von Land zu Land. Wenn in Deutschland eine muslimische Lehrerin Kopftuch trägt, fällt dies unter die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit. In Frankreich können Schülerinnen mit Kopftuch im Namen des Laizismus vom Unterricht ausgeschlossen werden. Verfassungsrechtliche Regelungen zu Religionsfreiheit und Nicht-Diskriminie- rung sind ein wichtiges Signal für die Aner- kennung von Minderheiten. Sie beeinflus- sen beispielsweise, ob bei der Integration von Migranten die Religion eher als Brücke oder Barriere wirkt. Historisch erklären sich diese Regelungen daraus, wie jeweils die Entflechtung von Staat und Kirche in der Moderne verlaufen ist. Heute stehen sie zunehmend unter dem Einfluss inter- nationaler Institutionen wie dem Europäi- schen Gerichtshof für Menschenrechte. Es ist daher interessant, dass Religionsfrei- heit nicht nur in nationalen Verfassungen, sondern auch in transnationalen Arenen unterschiedlich interpretiert wird. Auf der Suche nach Vorläufern der völ- kerrechtlichen Verankerung von Religions- freiheit bin ich auf frühe bi- und multi- laterale Verträge gestoßen, die bereits verschiedene Lesarten dieser Norm bein- halten. Aber was waren deren soziale Triebkräfte? Zum einen wohl das Streben, durch Minderheitenrechte das friedliche Miteinander in den Nationalstaaten zu schützen, die aus zerfallenen Imperien hervorgegangen waren; zum anderen Missionsbewegungen, die sich religiöse Märkte in Asien und Afrika erschließen wollten; und schließlich geo politische In- teressenlagen. Diese Triebkräfte sind zum Teil bis heute ursächlich für politische Kämpfe um Religionsfreiheit weltweit. Eine global vergleichende Soziologie kann das öffentliche Bewusstsein dafür schärfen, dass Institutionen, die als selbstverständlich erachtet werden, sich unter bestimmten Bedingungen vielleicht anders entwickelt hätten; und dass man aktuelle Kontroversen um religiöse Vielfalt nicht unabhängig von transnationalen Ver- flechtungen verstehen kann. MATTHIAS KOENIG Menschenrechte, Migra­ tions­ und Religions­ soziologie, soziologische Theorie Max Planck Fellow Group „Governance of Cultural Diversity“, Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity
GERMAN U15 9 ANNE STORCH, Institut für Afrikanistik und Ägyptologie, Universität zu Köln AUF EIN WORT MIT DEM FREMDEN In der Afrikanistik dreht sich fast alles um Sprache. Mal steht dabei die Wissen­ schaftskritik im Zentrum, wie in der soge- nannten „Southern Theory“, die den euro- zentrischen Blick zu überwinden und afrikanische Wissenskulturen in die Theo- riebildung einzubinden versucht. Mal kon- zentrieren sich Linguisten auf Wortlisten und Grammatiken, um Sprachstrukturen zu erforschen. Mich interessiert außerdem die soziale Funktion der Mehrsprachigkeit in Afrika, denn dort wachsen die Men- schen mit zwei bis fünf Sprachen auf – und sind äußerst erfolgreich in der Bildung von Gemeinschaften. Eines meiner Projekte führt uns seit 2016 zum Ballermann auf Mallorca. Die Frage: Wie begegnen Westafrikaner, die dort Toiletten putzen und Sonnenbrillen verkaufen, den Touristen auf sprachlicher Ebene? Sie erzählten, dass sie die deut- sche Sprache einfach erlernten, weil die Deutschen sie ins Partygeschehen einbe- zögen, mit ihnen Selfies machten. Kurzum: Zu ihnen konnten sie Beziehungen auf- bauen. Niederländisch dagegen empfan- den die Afrikaner als schwere Sprache, weil die Niederländer sich meist abwei- send verhielten. Die Fähigkeit, andere über das Gespräch zu erreichen, ist für sie also mit der Bereitschaft verknüpft, sich einem Menschen zu öffnen. Mehrsprachigkeit ist eine Kulturtech- nik, die für viele Afrikaner mit sozialem Er- folg zu tun hat; ob man eine Sprache gut beherrscht, ist dabei nicht so wichtig. Die fliegenden Händler, die sich auch als „aventuriers“ – Abenteurer – bezeichnen, gehen sehr spielerisch mit Worten um. Und so wie Ladenbesitzer ihre Geschäfte attraktiv einrichten, wollen auch die Stra- ßenhändler ein angenehmes sprachliches Grundrauschen erzeugen, um eine Brücke zum Fremden zu bauen. Für sie ist das Gespräch vor allem Ausdruck zwischen- menschlicher Annäherung. Das könnte doch Modellcharakter für den Umgang mit fremden Kulturen haben. BERNHARD PÖRKSEN, Institut für Medienwissenschaft, Universität Tübingen BILDUNGSAUFTRAG: KREATIVE MUSSE Wie beeinflussen digitale Überall-Medien unsere Gesellschaft? Was bedeutet es, wenn jeder rund um die Uhr senden, spei- chern und publizieren kann, also über alle Instrumente verfügt, um einen Dauerer- regungszustand in Gang zu halten? Eine meiner Thesen auf dem Gebiet der Skan- dalforschung lautet, dass die Gesellschaft immer unruhiger und gereizter wird. Ver- netzung heißt Verstörung, vor allem dann, wenn Bilder in Umlauf geraten, die ein ge- rade noch verehrtes Vorbild, aber auch Pri- vatpersonen blitzschnell demontieren und Ansehen und Autorität in Lichtgeschwin- digkeit pulverisieren können. In einer Übergangsphase der Medien- evolution sind wir den Instrumenten und Möglichkeiten des barrierefreien Publizie- rens noch nicht gewachsen. Was also ist zu tun? Pointiert gesagt müssen wir alle zu Redakteuren in eigener Sache werden. Denn täglich sind wir mit Fragen konfron- tiert, die sich auch gute Journalisten stel- len: Welche Quelle ist seriös? Ist eine In- formation relevant? Was sollte zum Schutz der Betroffenen nicht öffentlich werden? Die Kompetenz, darauf kluge Antworten zu finden, sollte zur Allgemeinbildung gehö- ren, ist aber mit einem gigantischen, poli- tisch noch nicht verstandenen Bildungs- auftrag verknüpft. Wir müssen schon mit Kindern und Ju- gendlichen eine reflektierte Art des öffent- lichen Sprechens einüben. Wir brauchen eine Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit – die Auseinandersetzung mit der Veränderung der öffentlichen Außenwelt und der kognitiven Innenwelt. Denn die Lebenskunst im digitalen Zeitalter stellt höchste Ansprüche an unsere Werteorien- tierung und Entschiedenheit: Gerade, weil es eine ungeheure Freude sein kann, sich in den Informationswelten zu verlieren, ist es ein Gebot der inneren Balance, sich zeit- weise wieder daraus zurückzuziehen. Denn zur Selbstverantwortung gehört auch, sich Inseln der Reizarmut und gepflegten Lan- geweile zu bewahren, um kreativen Prozes- sen Raum zu geben und Momente der Tie- fenkonzentration erleben zu können. ANNE STORCH Sprache und Kontext, Kritische Afrikanistik, Metalinguistik Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis BERNHARD PÖRKSEN Medienwandel, Kommunikationstheorie, Skandalforschung Professor des Jahres 2008, Mit­Initiator der Charta der Digitalen Grundrechte der EU
10 GERMAN U15 BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Historisches Seminar, Universität Münster VON DER KONTINGENZ IN DER POLITIK Kulturen des Entscheidens stehen im Zen- trum eines Sonderforschungsbereichs, in dem uns die Frage beschäftigt, wie sich die Praxis des Entscheidens verändert hat. Mit Entscheiden meinen wir nicht ein inne- res Geschehen, sondern eine Art des sozi- alen Handelns: Man entwickelt verschie- dene Handlungsoptionen, um sich dann explizit auf eine davon festzulegen. Oft deutet man aber auch erst im Nachhinein einen Akt als Entscheidungsakt. Unsere These lautet: Entscheiden ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ei- ne Zumutung, die hohe soziale Kosten verursacht und die man deshalb tendenzi- ell lieber vermeidet. Tatsächlich sind zum Zeitpunkt der Entscheidung die Konse- quenzen ja nie absehbar. Das wirft beson- dere Legitimitätsprobleme auf: Man hätte immer auch anders entscheiden können, und die verworfenen Optionen stehen ja noch im Raum. Diese Kontingenz wird ge- rade in der Politik gern verschleiert; man spricht von „alternativlosen Entscheidun- gen“ – ein Widerspruch in sich. Mit den Zumutungen des Entschei- dens ging man zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen sozialen Feldern unterschiedlich um. Wir möchten das ge- nauer wissen und suchen nach „Kulturen des Entscheidens“ – im Plural. Die Frage lautet: Wann, warum und wie wird sozia- les Handeln als Entscheidungshandeln geformt, inszeniert und wahrgenommen? In der einen Kultur werden Dinge ent- schieden, die man in einer anderen Kultur der Routine überlässt. In früheren Epo- chen hat man Entscheidungen gern transzendenten Instanzen zugeschrieben, dem Wirken des Heiligen Geistes etwa. Heute sind viele Dinge, die man früher für unverfügbar hielt, entscheidbar, aber auch entscheidungsbedürftig geworden: von der Schwangerschaft bis zum selbst- bestimmten Sterben. Zugleich kennzeich- net die Moderne der optimistische Glau- be, stets rational entscheiden zu können. Woher dieser Rationalitätsglaube kommt und wohin er führt – das ist eine der Fra- gen, die wir in interdisziplinärer Zusam- menarbeit zu beantworten suchen. BARBARA STOLLBERG-RILINGER Politische und kulturelle Bewegungen in Europa vom 16. bis 18. Jahrhundert Gottfried Wilhelm Leibniz­ Preis, Co­Sprecherin Exzellenzcluster Religion und Politik ULRICH HERBERT Deutsche und europäi­ sche Geschichte des 20. Jahrhunderts, Holocaust forschung, Migrations forschung Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis
GERMAN U15 11 GREGORY CRANE, Institut für Informatik, Universität Leipzig IDEENGESCHICHTE AM VORABEND DER REVOLUTION Über „Digital Humanities“ und computer- gestützte Verfahren in den Geistes- und Kultur wissenschaften wird weltweit disku- tiert. Die Chancen stehen gut, dass von Deutschland eine wissenschaftliche Re- volution ausgehen wird. Die Frage, wie digi tale Methoden einsetzbar sind, um alt griechische und römische Kulturen zu verstehen, beschäftigte mich schon wäh- rend meiner Doktorarbeit vor 30 Jahren. Denn weil zur Analyse antiker Quellen ne- ben Altgriechisch und Latein auch Spra- chen wie Sumerisch, Akkadisch und Hethi- tisch nötig sind, war das Auffinden valider Texte eine große Hürde. So entstand die Idee zur Gründung der digitalen Bibliothek „Perseus“, die alle verfügbaren Quellen in allen Übersetzungen zugänglich macht. Darüber hinaus arbeiten wir im Rah- men der interdisziplinären Plattform „Glo- bal Philology“, die vom Bundesministeri- um für Bildung und Forschung finanziert wird, an einer Ideengeschichte von der An- tike bis heute. Das Besondere: Algorith- mus-basierte Analysen, die aus Millionen von Texten etwa den gegenseitigen Ein- fluss von Denkern und intellektuellen Netzwerken herauslesen. Diese gewaltige Informationsmenge könnten wir auf analo- gem Wege niemals erheben. Diese bahn- brechende Entwicklung eröffnet einen neuen Blick auf die Geschichte, verlangt aber von uns Altsprachlern auch, Kennt- nisse aus der Informatik und den Geistes- wissenschaften miteinander zu verknüp- fen: Denn um Fragen in die richtigen Codes verpacken zu können, müssen wir uns Kompetenzen im Programmieren erarbei- ten. Ich halte es zudem für eine Ironie der Geschichte, dass wir Big Data wieder in den Dienst von Erkenntnisgewinn stellen, während sie gegenwärtig ja überwiegend im kommerziellen Kontext genutzt werden. Wir haben die historische Chance, Werke der Weltliteratur weltweit ins Be- wusstsein zu rücken, die sich der utilita- ristischen Verwertungslogik entziehen – und ihren Wert ewig behalten: Sie waren bedeutend, bevor wir geboren wurden, und sie bleiben es, auch wenn wir gegan- gen sind. GREGORY CRANE Literatur der griechischen Antike, eHumanities, Cyberphilologie Alexander von Humboldt­ Professur, Google Digital Humanities Award ULRICH HERBERT, Historisches Seminar, Universität Freiburg GERMAN ANGST? GIBT ES NICHT! Was die Rede von einer neuen „German Angst“ betrifft, bin ich skeptisch. Damit wurde in den 1980er Jahren eine etwas ka- tastrophenselige Grundhaltung zu Themen wie Waldsterben und Nachrüstung charak- terisiert. Für eine soziale Zukunftsangst gab es vor 15 Jahren bei fünf Millionen Ar- beitslosen gewiss handfeste Gründe. Aber heute? In den vergangenen 130 Jahren ging es den Deutschen nie so gut wie derzeit. Die Irritationen und Verängstigungen, etwa wegen der Millionen von Flüchtlin- gen, die in den letzten Jahren nach Europa gekommen sind, sind hingegen kein deut- sches Spezifikum. Eher im Gegenteil; die ruhige und eher abwartende Haltung des weit überwiegenden Teils der Deutschen ist ja durchaus beeindruckend. Auch steht Deutschland bei der Integration der Zuge- wanderten, bei beruflicher Ausbildung und Bereitstellung von Arbeitsplätzen im Ver- gleich zu anderen Ländern eher gut da – obwohl die Bundesregierungen bis in die späten 1990er Jahre Einwanderung durch- weg ablehnten. Wer jedoch glaubt, die Pro- bleme mit Masseneinwanderung ließen sich jetzt irgendwie schnell lösen, der irrt. Die derzeitigen Einwanderungswellen sind ja vor allem Ausdruck der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen dem reichen Nord- westen und dem globalen Süden. Die aber nimmt weiter zu, und ebenso werden die Migrationsbewegungen zunehmen. Die größte Bedrohung geht heute vom wieder erstarkenden Nationalismus aus. In Europa und auch in den USA haben sich starke nationalistische, rechtsradikale und fremdenfeindliche Bewegungen aus- gebreitet. Sie führen zurück in die politi- schen Konfrontationen der 1920er und 1930er Jahre, deren katastrophales Ende offenbar langsam aus dem kollektiven Ge- dächtnis verschwindet. Die gewaltigen Erfolge der europäischen Einigung neh- men wir heute wie selbstverständlich zur Kenntnis – Fehler und Widersprüche wer- den laut beklagt, nationale Alleingänge werden gepriesen. Das ist in der Tat be- ängstigend. Am Nationalismus gehen die Völker zugrunde.
12 GERMAN U15 FRANK FEHRENBACH, Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg BILDER DER NATUR Seit der Antike inszenieren Künstler den Anschein von Lebendigkeit: als Spiel und lustvoller Augentrug, aber immer so, dass ein rätselhafter, unsere Imagination über- steigender Rest bleibt. Auf den Punkt bringt dieses Phänomen der Verlebendigung eine Inschrift auf einem berühmten Altarbild aus der Zeit der Hochrenaissance. Es zeigt die Beweinung von Christus – die Pietà: „Sobald die (vom Weinen) geschwollenen Augen die Klagen (des Betrachters) hervor- brechen ließen, konnte das Werk des Gio- vanni Bellini weinen.“ Die von Trauer ge- zeichneten Blicke von Maria und Johannes lösen beim Betrachter eben diese Regung aus – und scheinen so das ganze Bild in Rührung zu versetzen. Trotz Rationalität und Aufklärung sind Menschen zu solchen Momenten magischer Übertragung fähig – und nicht nur in der Kunst. So offenbart sich unser Hang zum Fetisch auch im heuti- gen Alltag. Man denke an den Autofahrer, der sich verzweifelt über einen Kratzer im Lack beugt. Davon ausgehend, dass wir emotional auf- geladene Beziehungen zu Dingen pflegen, fragen wir uns in unserer Forschungsstel- le: Was hat dieses empathische, bildge- steuerte Verhältnis zu Objekten mit unse- rem Verhältnis zur Natur zu tun? Wie sähe es aus, wenn Künstler, Designer und Land- schaftshistoriker in gestalterische Prozesse im Rahmen der sogenannten Energiewen- de einbezogen wären? Darüber wird zu we- nig nachgedacht, obwohl es Bewegungen wie das Bauhaus gab, die die Form von All- tagsobjekten revolutionierten. Mit unserem Interesse an historisch veränderlichen Naturbildern suchen wir Architekten, Künstler, Urbanisten und Landschaftsplaner, um eine öffentliche Auseinandersetzung über eine gelungene Gestaltung von Technik und Landschaft herbeizuführen. Der Anspruch ist, die ver- meintliche Alternativlosigkeit in Frage zu stellen – die wichtigste Aufgabe von Uni- versitäten, die sich als Laboratorien des guten Lebens profilieren sollten. OLIVER PRIMAVESI, Lehrstuhl für Griechische Philologie I, Universität München TEXTKRITIK STATT FAKE-NEWS Die vorliegenden Aristoteles-Übersetzun- gen können die Gedanken des griechi- schen Philosophen oft nur unpräzise ver- mitteln. Denn bei vielen seiner Schriften müssen deren moderne Übersetzer immer noch mit Ausgaben des altgriechischen Originals arbeiten, die auf völlig unzurei- chender Quellenbasis beruhen. Wie bei der „Stillen Post“, bei der der Ausgangsbe- griff am Ende oft nicht mehr wiederzuer- kennen ist, drangen auch im Laufe der handschriftlichen Überlieferung unzählige Fehler ein. Dabei wurden Sinnzusammen- hänge so entstellt, dass man Aristoteles gleichsam wie durch Milchglas lesen muss. Aufgrund dieser Einsicht hat die Ox- ford University Press mich und einen Pari- ser Kollegen beauftragt, das Hauptwerk des Aristoteles, die „Metaphysik“, neu zu edieren. Um Abschreibefehler zu korrigie- ren und den Originaltext bestmöglich zu rekonstruieren, wollen wir sämtliche er- haltene Handschriften ausfindig machen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse prüfen und die so ermittelten unabhängigen Überlieferungs-Träger vergleichend bewer- ten. Dazu ist das aktive Beherrschen der alten Sprachen unabdingbar: Denn wer den grammatikalisch korrekten Ausdruck nicht kennt, kann Abweichungen nicht er- kennen. Im Fall des Aristoteles kommt hin- zu, dass sich viele Überlieferungsvarian- ten nur mit philosophischer Kompetenz bewerten lassen. Zum Erwerb dieser Fähigkeit kann der altsprachliche Unterricht am Gymnasium einen wichtigen Beitrag leisten: Denn wo wird der Unterschied zwischen schlüssiger Argumentation und wohlmeinendem, aber leerem Gerede plastischer vor Augen ge- führt als in Platons Dialogen? Die Heraus- forderung, anspruchsvolle griechische und römischer Texte zu verstehen und übersetzen, ist neben der Mathematik die beste Erziehung zu intellektueller Redlich- keit. „Hier weiß man noch, was ein Fehler ist“ – diese prägnante Formel Friedrich Nietzsches für den Segen der klassischen Bildung ist im angeblich postfaktischen Zeitalter aktueller denn je. FRANK FEHRENBACH Modellierungen der Natur in Malerei und Skulptur, Wissenschaftsgeschichte und Kunst seit 1300 Alexander von Humboldt­ Professur OLIVER PRIMAVESI Philologie der grie­ chischen Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz­Preis
GERMAN U15 13 JUDITH PFEIFFER Geschichte der Mongolen, insbesondere die religiöse Konversion der Mongolen zum Islam Alexander von Humboldt Professur JUDITH PFEIFFER, Institut für Orient­ und Asienwissenschaften, Universität Bonn VOM ATHEISMUS IM ISLAM Als Islamwissenschaftlerin trägt man heu- te, da Debatten über den Islam meist ein- seitig geführt werden, eine große Verant- wortung: In den Medien dominiert die Ignoranz, mit der schon einmal 1400 Jahre Geschichte übersprungen werden, um sich auf die Zeit des Propheten Moham- med zu fokussieren und vor einem Kalifat zu warnen. Solche Simplifizierungen fol- gen der Argumentation von Extremisten. Würde ein Islamwissenschaftler die deut- sche Historie von einem derart niedrigen Kenntnisstand her beurteilen, gälte das mit Sicherheit als Anmaßung. In Wirklich- keit sind die Geschichte und Struktur isla- mischer Gesellschaften natürlich ebenso komplex. Ich beschäftige mich mit dem Nahen Osten während der Übergangszeit vom späten Mittelalter zur frühen Moderne. Aus dieser Epoche der Renaissance, der europäischen Religionskriege und der Aufklärung haben wir bisher höchstens zehn bis 15 Prozent jener Primärquellen publiziert, die uns Aufschluss über die damalige intellektuelle Entwicklung des Islams geben. Bei dieser Grundlagenfor- schung geht es um das Aufsuchen und Übersetzen prägnanter Texte, um diese zu- gänglich zu machen. Dieses sprichwörtliche Bohren dicker Bretter ist auch deshalb wichtig, um zu ei- nem gesellschaft lichen Perspektivwech- sel beizutragen. Denn der Islam wird zu Unrecht häufig nur als Religion wahrge- nommen, nicht als Kultur. Tatsächlich le- ben hierzulande auch viele atheistische Muslime, die in säkularen Familien im Na- hen Osten oder Nordafrika aufwuchsen, in der Öffentlichkeit aber nicht wahrge- nommen werden. Kaum thematisiert wird zudem, dass, wenn christliche und jüdische Minoritä- ten friedlich in islamisch dominierten Gesellschaften zusammenleben können, dies doch auch bei uns möglich sein müsste. Solange sich keine Gruppe be- droht fühlt, alle einander auf Augenhöhe begegnen und Demokratie und Wahlfrei- heit gewährleistet sind, gibt es keinen Grund, das Tragen äußerer Insignien wie eines Kopftuchs als Bedrohung wahrzu- nehmen.
14 GERMAN U15 STEFFEN MAU Politische Soziologie, soziale Ungleichheit, vergleichende Sozialpolitik­ forschung, Europäi­ sche Integration und Migration STEFFEN MAU, Institut für Sozialwissenschaft, Humboldt­Universität zu Berlin DIE UNGLEICHHEITSTOLERANZ DER MITTELSCHICHT Die soziale Ungleichheit der Einkommen und Vermögen hat in den westlichen Ge- sellschaften seit den 1980er Jahren zuge- nommen. Sie beeinträchtigt das subjektive Wohlbefinden, die kollektive Gesundheit und das gesellschaftliche Vertrauen. Die Ungleichheit wird zwar öffentlich gern kritisiert, aber es erwachsen daraus nicht unbedingt politische Entscheidungen in Richtung eines sozialen Ausgleichs. Denn zugleich gibt es in der Bevölkerung eine erhebliche Ungleichheits-Toleranz, insbe- sondere in den Mittelschichten. Diese pro- fitieren zwar von den Transferleistungen des Staates, sie setzen aber zugleich auf Leistungsgerechtigkeit und engagieren sich am Markt: nicht nur als Arbeitnehmer, sondern auch als privat Vorsorgende, als Kleinanleger am Aktienmarkt oder Immo- bilienbesitzer. Dadurch stehen sie dem Thema Umverteilung skeptisch gegenüber und befürworten eher Investitionen in Bil- dung und Infrastruktur. Eine überzeugende Programmatik im Umgang mit der sich öffnenden sozialen Schere fehlt. Und die gesellschaft lichen Fliehkräfte nehmen weiter zu. Die Stagna- tion der Mitte, der Unmut jener, die sich abgehängt fühlen, aber auch Globalisie- rungssorgen, technologischer Wandel und die Pluralisierung der Lebensformen na- gen an den gesellschaftlichen Kompro- missformeln. In Teilen der Gesellschaft erodiert das Sicherheitsgefühl, Status- ängste machen sich breit. Neue Solida- risierungen beziehen ihre Kraft nicht mehr allein aus Prinzipien der Verteilungs- gerechtigkeit, sondern auch aus kulturel- len Identitätsbezügen und populistischer Selbstbehauptung. Das geht häufig mit so- zialer Abschließung und der Abwertung anderer einher. Vertrauen fasst man dann nur zu de- nen, die als gleich und zugehörig wahr- genommen werden. Verunsicherte, ängst- liche Gesellschaften verlieren somit an der Fähigkeit zur Kooperation über Gruppen- grenzen hinweg. Schließlich sind es solche geteilten Erfahrungen und Perspek tiven sowie die Fähigkeit zum Interessenaus- gleich, die moderne Gemeinwesen kenn- zeichnen und erfolgreich machen.
EXZELLENZINITIATIVE DES BUNDES UND DER LÄNDER Exzellenzprojekte (Stand 2017) EXZELLENZCLUSTER 6 43 IN DEUTSCHLAND 26 AN U15-UNIVERSITÄTEN GRADUIERTENSCHULEN 7 . ] 7 1 0 2 i a M . 1 3 : d n a t S [ . C S G = d i ? p s j . x e d n i / n e t s i l / e m m a r g o r p / g n u r e d r e o f / e d . g f d w w w / / : p t t h , 7 1 0 2 , n e l u h c s n e t r e i u d a r G n e d n e f u a l r e d e t s i L , G F D 7 45 IN DEUTSCHLAND 23 AN U15-UNIVERSITÄTEN IMPRESSUM Herausgeber: German U15 e.V. Chausseestraße 111 10115 Berlin Tel. +49 30 20 60 49 12 80 Fax: +49 30 20 60 49 12 89 presse@german-u15.de www.german-u15.de Konzept und Umsetzung: Ass. jur. Denise Feldner, M.B.L. (Geschäftsführung) Verlag: TEMPUS CORPORATE GmbH – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags Askanischer Platz 3 10963 Berlin Tel. +49 30 59 00 48 411 Geschäftsführung: Jan Hawerkamp Projektleitung: Dr. Joachim Schüring Art­Direktion: Mirko Merkel Lektorat: Julia Kühn Herstellung: Dirk Woschei Druck: Bechtle Verlag&Druck, Esslingen Erscheinungsdatum: 20.6.2017 Bildnachweis: Titelbild: Delil Souleiman/AFP/ Getty Images, Michael Baynes Photography/ Getty Images, picture alliance/AP Photo, Xia Yuan/ Getty Images, Zhu Yongming/Getty Images, FranÇois Nascimbeni/AFP/Getty Images, picture alliance/ZUMA Press, Bloomberg Finance LP/ Getty Images, picture alliance/Nicolas Economou/ NurPhoto; Infografiken S. 2, 15: Nora Lorz Design; S.3: Silvia Wolf, JGU/Thomas Hartmann; S. 4, 7 (oben): Lêmrich; S. 6, 13, 14: Espen Eichhöfer; S. 7 (unten), 8 (unten), 10 (unten), 11: Sebastian Berger; S. 8 (oben): Franz Bischof; S. 9, 10 (oben): Henning Ross; S. 12: Basti Arlt. . ] 7 1 0 2 i a M . 1 3 : d n a t S [ C X E = d i ? p s j . x e d n i / n e t s i l / e m m a r g o r p / g n u r e d r e o f / e d . g f d w w w / / : p t t h , 7 1 0 2 , r e t s u l c z n e l l e z x E n e d n e f u a l r e d e t s i L , . G F D 6
Freie Universität Berlin I Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn I Eberhard Karls Universität Tübingen I Albert-Ludwigs-Universität Freiburg I Goethe-Universität Frankfurt am Main I Universität Hamburg I Johannes Gutenberg-Universität Mainz I Georg-August-Universität Göttingen I Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg I Universität zu Köln I Westfälische Wilhelms-Universität Münster I Julius-Maximilians-Universität Würzburg I Universität Leipzig I Humboldt-Universität zu Berlin I Ludwig-Maximilians-Universität München